Kommen wir noch einmal auf die Skulptur zu sprechen. Inwiefern zeigt sich die Prägnanz eines Senufo-Schnitzers?
Ich verbildliche dies an einem Beispiel von drei kleinen Nyingife-Figürchen (Abb. 2), die dem Schnitzer Songuifolo Silué zugeschrieben werden. Ohne das Wissen des Goldenen Schnitts fertigte dieser Schnitzer aus Sirasso, Elfenbeinküste, bis Ende der 1970er-Jahre diese Schutzfiguren in gleicher Proportion bei unterschiedlichem Größenverhältnis (Oberkörper und Kopf stehen im Verhältnis 3:2 im Verhältnis zum Unterkörper mit Beinen). Elsy Leuzinger wird auf Seite 30 im Buch Ahnen – Geister – Götter, Hamburgisches Museum für Völkerkunde, Hamburg 1985, wie folgt zur afrikanischen Proportion zitiert: „Alles, was eine Idee verkörpert, alles, was der ästhetischen Funktion dient und dem Gleichgewicht der Form nützt, wird betont und mit besonderer Sorgfalt behandelt.“ Mal von ihrer sehr gut beschriebenen Bedeutungsproportion abgesehen, zeugt diese von Silué angewandte Streckenaufteilung meiner Meinung nach von einem enormen gestalterischen Bewusstsein. Dieses Talent ist mit dem „absoluten Gehör“ eines Musiker zu vergleichen. Ein gutes Design zeichnet sich zum Beispiel nicht nur durch Form, Farbe oder Material aus. Die Proportion ist das Entscheidende. Die Theorien des Goldenen Schnitts sind nicht in der Afrikanischen Plastik anzuwenden. Es ist schlichtweg falsch, eine afrikanische Figur mit da Vincis vitruvianischem Menschen zu vergleichen. Ich kenne mittlerweile die Werke einiger Koulé (Schnitzer) und Fono (Schmiede) der Senufo, sodass ich mit Bestimmtheit namentliche Zuschreibungen geben kann. Auch muss man wissen, dass ein sogenannter Schnitzmeister ein komplexes Lebenswerk hinterlassen hat. Oft hatten diese Familienmitglieder wie Söhne, Brüder oder Onkel, die ihnen zugearbeitet haben. Wenn ein Schnitzer bekannt war, wie eben ein Songuifolo Silué, Bakari Coulibaly, Sabariko Koné oder Ziehouo Coulibaly, dann waren ihre Arbeiten keine Seltenheit in der Region. Noch heute finden sich Skulpturen von Schnitzern, die 1950 verstarben und deren Name immer noch ein Begriff bei den Senufo ist.
Woher hast Du diesen Informationsfundus?
Der 2012 verstorbene Karl-Heinz Krieg war mein Mentor, was die Senufo betrifft. Als Feldforscher und Händler dokumentierte er nicht nur viele Künstler, sondern wollte auch, dass die Künstler der Senufo direkt zu uns sprechen und dass man sie als Schaffende auch herausstellt. Karl-Heinz Krieg hatte nicht nur ein Auge für ein gut ausgeführtes Handwerk, sondern auch eine sehr gut formulierte Auffassung für die Skulptur und ihre Proportion. Seine große Bewunderung und Begeisterung zu den Senufo übertrug sich auf mich. Auch arbeite ich sehr intensiv mit Souleymane Arachi in Korhogo zusammen. Souleymanes Vater, Karmini Arachi, ist seinerzeit schon mit Krieg durch das Senufo-Land gereist. Durch Souleymane habe ich die Möglichkeit, aktuelle Informationen vor Ort zu erfahren und die verschiedenen Senari-Dialekte ins Französische übersetzen zu lassen.
Du schreibst, dass die Studie allem voran geht.
In unserem Kulturkreis ja. Im Buch nenne ich dazu ein paar Eckdaten, aber ich denke, dass es Alexander von Humboldt mit dem Zählen, Messen und Wiegen auf den Punkt gebracht hat. Unser Bewusstsein gründet auf diesen niedergeschriebenen Erkenntnissen und Dokumentationen. Dies ist im Afrikanischen nicht der Fall. Die Wahrung des Wissens funktioniert bei den Senufo zum Beispiel über mündliche Überlieferung in den Initiationsphasen des Poro, einem Geheimbund, in dem junge Männer insgesamt sieben Stadien des Erwachsenwerdens durchlaufen. Die Sicherung erfolgt nicht wie bei uns durch Sammeln und Dokumentieren, sondern durch Wiederholung. Dieses Wirken eines kulturellen Gedächtnisses werde ich in meinem dritten im Herbst erscheinenden Buch „Wenn Urform Form bestimmt“ thematisieren.
Welche Wirkung siehst Du in der Studie?
Das Durchlaufen der Studie bildet die Basis unserer Kulturentwicklung und Kulturwahrung und schafft auch die Grundlage ästhetischer Grundsätze sowie die Wahrnehmung der eigenen künstlerischen Fähigkeit. Während meiner Ausbildung zum Designer war die Aktzeichnung neben der Kostümkunde und der Kunstgeschichte fundamental für mein Bewusstwerden. Anhand der Zeichnung an sich beschreibe ich den Lernprozess des Sehens. Das Schlüsselerlebnis war das Zeichnen des Aktes einer Transsexuellen. Es war mir nicht bewusst, dass ich einen angepassten Körper zu skizzieren hatte. Ich bemerkte eine Art Unordnung, die ich auch so irritiert auf mein Blatt setzte. Der Körperbau war der eines Mannes, jedoch mit den Merkmalen einer Frau. Daraufhin hat sich mein Sehen und, damit verbunden, meine Zeichnung neu geordnet. Jedoch trägt das Prinzip der Studie nicht nur zum Wissen bei, sondern legt auch den Maßstab zu einer Bewertung an. Geltungen mit einer bewertbaren Ausprägung sind entstanden. Wir sehen und begreifen ein Objekt nicht nur, sondern wir bewerten es auch. Da sehe ich ein Problem in der Studie der Afrikanischen Plastik: Wir legen unseren Maßstab an ein Objekt aus einem anderen Kulturkreis mit einem völlig anderen Kontext. Das Ergebnis unserer kognitiven Untersuchung lautet dann „Original“ oder „Fälschung“. Die Afrikanische Plastik erfährt eine postkoloniale Aneignung unserer westlichen Welt, was sich durch die vorhin erläuterte Anonymisierung ausdrückt. Die Entstehungsgrundlage des Schnitzers und die Verwendungsgebundenheit der Skulptur im Brauch werden dabei nicht nur außer Acht gelassen, sondern – aus kommerziellen Hintergründen –bewusst ausgeblendet.
Wie bist Du zu dieser Schlussfolgerung gekommen?
Das Gespräch, das ich mit Souleymane Arachi aus Korhogo über das soziale Netzwerk Facebook geführt habe, hat mich das erkennen und schließlich auch verstehen lassen. In der Ausgabe 08/2014 der Kunst und Kontext wurde bereits ein Teil dieser Unterhaltung veröffentlicht. Souleymane dokumentiert die Skulpturen in seinem Museum nicht in unserem Sinn. Auch bewertet er ein Objekt nach ganz anderen Kriterien. Ich mache ihm da keinen Vorwurf, sondern habe erkannt, dass die Wahrung bei den Senufo in der Repetition liegt. In der Wiederholung der Plastik bleibt das Wissen gewahrt – ein gesellschaftliches Gedächtnis in Form der Plastik, wenn man so will.
Aus diesem Grund also sind rezente Arbeiten von Relevanz? Ist die Wahrscheinlichkeit der Fälschung nicht zu hoch?
Ich habe entschieden was dagegen, wenn ein Stück manipuliert wurde, also wenn mit Säure Patina erzeugt wird oder ein Objekt Gebrauchsspuren an Stellen aufweist, an denen eigentlich keine sein sollten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Kpelié-Maske nicht entscheidend verändert. Jeder Schnitzer schnitzt die gleichen Attribute in seinem eigenen Können und Stil. Natürlich kursieren heute weitaus mehr gefälschte Stücke auf dem Markt als noch vor 100 Jahren. Ich zeige im Buch in Gegenüberstellungen auch veritable Fälschungen und auch die sogenannte Airport-Art. Auch habe ich festgestellt, dass Skulpturen, die für den Verkauf geschnitzt wurden, durchaus ihren Einsatz im rituellen Brauch fanden.