Kannst Du uns zur rezenten Skulptur ein Beispiel nennen?
Ein wunderbares Beispiel zeige ich an Ziehouo Coulibaly (Abb. 3). Er ist ein 74-jähriger Koulé aus Korhogo, Elfenbeinküste, der als Daleguee auch Skulpturen mit einem Gesicht schnitzen darf. Er erlernte bereits mit zwölf Jahren das Handwerk von seinem Vater. Ich muss ehrlich sagen, dass ich seine Masken zunächst als kitschig empfand. Das Überladene wirkte sehr auf Verkauf getrimmt. Als ich dann die ersten Masken in der Hand hielt, änderte ich aber meine Auffassung. Dieser Mann schnitzt aus freier Hand innerhalb von zwei Wochen eine Maske mit allen traditionellen Merkmalen einer Kpelié, jedoch in einer bewusst ausgeführten Stilisierung. Er ist einer der Letzten seiner Generation, der noch die Tradition kennt und diese auch auf seine persönliche Art umsetzen kann. Ich habe ihn bereits in meinem Artikel über Souleymane Arachi genannt. Nachdem er sich in der Kunst & Kontext gesehen hat, ist er zu einem Wahrsager, von dem er wusste, dass dieser seine nach seinen Angaben besten Figuren beherbergte. Ziehouo wollte unbedingt, dass ich dieses Tugubele-Paar (Abb. 4) im Buch zeigen soll. Mir zeigt das auch, dass er sich durch seine Arbeit als schaffender Urheber sieht, der zu Recht genannt sein möchte. Die Bemalung der Figuren wurde nachträglich vom Wahrsager angebracht. Es ist zu lange her, dass er sich daran erinnern kann, wann er dieses Paar schnitzte, dennoch stehen sie exemplarisch für rezente Arbeiten, die im Brauch waren und heute noch in Afrika auf höchstem Niveau entstehen. Ziehouo Coulibaly macht nichts anderes als die Wiederholung, verbunden mit seiner persönlichen Stilisierung im Sinne seiner Tradition. Ich fühle mich durch seine Arbeiten sehr an meine Tätigkeit in der Haute Couture in Paris erinnert. Die Stilisierung ist auf die Spitze getrieben, man macht sich genau dort viel Arbeit, wo ein anderer sich keine Arbeit mehr macht.
In weiteren Gesprächen habe ich herausgefunden, dass Ziehouo nicht nur für den Brauch, sondern auch für die sogenannte Airport-Art produziert. Es kommen Händler zu ihm, die fertig geschnitzte Masken kaufen und diese dann mit Möbelpolituren oder Farben behandeln, damit sie gebraucht aussehen. Man erkennt den Unterschied im Vergleich, denn seine Masken, die mit Schwarzbeize für den traditionellen Brauch bearbeitet wurden, zeigen eine krustige schwarze Patina und unterschiedliche Gebrauchsspuren. Er selbst zieht keinen Unterschied, beide Verwendungen stellen für ihn seine Existenzgrundlage dar und er stellt an jedes seiner Anfertigungen den gleichen hohen Anspruch.
Wie wirkt sich nun eine Skulptur auf Deinen Entwurf aus, wenn Du also den Weg einer Neuordnung gehst?
Ich hatte eine gelb gestrichene Syonfolô-Reiterfigur (Abb. 6) von Souleymane Arachi aus Korhogo erworben. Ich weiß nicht warum, irgendwie hat sie mich angesprochen.
Es handelt sich auch um eine rezente Arbeit, aus der Region Madinin, Elfenbeinküste. Seit den 1950er-Jahren wird die Skulptur der Senufo auch mit Farbe bemalt. In der Auseinandersetzung sah ich dann, dass die Architektur des Pferdes und des Reiters selbst hervorragend ist. Die Figur zeigt einen A-förmigen Aufbau, sie ist zentriert, alle traditionellen Merkmale sind sauber verarbeitet. Aber irgendetwas beschäftigte mich, die Figur hatte etwas Paradoxes. Zuerst dachte ich, es sei die Farbe. Das Gelb ist nicht kräftig oder leuchtend, sondern eher unangenehm. Ich fotografiere alle Objekte für das Buch selbst, meist mit einer Belichtungszeit von mindestens 7 Sekunden. In der Nachbearbeitung der Bilder sehe ich dann Details, Patina oder sogar Farbspuren. Auf dem Bildschirm erkannte ich schließlich, dass die ganze Figur schwarz grundiert ist. Zunächst keine große Erkenntnis. Jedoch sind die Rillen und Vertiefungen schwarz geblieben und der Künstler hat die gelbe Farbe nur auf die Oberfläche der Figur gestrichen. Sonst sind immer Farb- oder Pigmentreste in den Schnitzrillen zu finden. Mit dieser Vorgehensweise hat der unbekannte Künstler Konturen geschaffen, die die Reiterskulptur definiert. Diese Vertiefungen habe ich dann in Schmuck (Abb. 7) übersetzt und den Silberanhänger mit Lackfarbe überzogen. So entstand eine Vorgehensweise, wie sie in der konfektionierten Fertigung wegen des hohen Aufwandes nicht vorgenommen wird.
Du betrachtest auch die geschichtliche Entwicklung der Faszination zum Fremden. Wie setzt Du Deine Erklärung dazu an?
Erneut über die Studie. Der italienische Maler Cennino Cennini schreibt um 1400 in seinem Tractat der Malerei, dass das Studium der Natur die „vollkommenste Führerin“ der Zeichnung sei. Künstler der Renaissance wie Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer oder Andreas Vesalius setzten sich bewusst mit der anatomischen Studie des menschlichen Körpers auseinander. Das künstlerische Bewusstsein formte sich durch die Studie der Natur, formte das Bewusstwerden des eigenen Sehens. Man zeichnete nicht mehr aus einer Vorstellung heraus, sondern vom tatsächlich Gesehenen. Im Naturalismus schließlich, zwischen 1850 und circa 1900, bestand das Anliegen des Künstlers darin, das wahrhaftig Gesehene bis ins kleinste Detail abzubilden. Die Richtigkeit des Wahrgenommenen wurde in Bild und Skulptur wiedergegeben, dabei war man auch um kontextgebundene soziokulturelle Wahrheit bemüht. Die Anatomie der Körper war erforscht. Durch die Studie wusste man nun und musste nicht mehr glauben oder aus einer Einbildungskraft heraus schaffen. Die Abbildung des bewusst Gesehenen setzte sich in der Faszination zur Exotik fort. Neue An- und Einsichten wurden geboten. Dazu zeige ich beeindruckende Aquarelle von Henri Emile Adrien Trodoux aus dem Jahr 1877, der anatomische Studien, wohl für ein Lehrbuch, von exotischen Tieren wie Rhesusaffe oder Bengalischer Löwe aus dem Pariser Zoo präzise malte.
Eine Deiner Erkenntnisse ist, dass es in der Natur keine Linien gibt. Wie überträgst Du diesen Gedanken auf die Afrikanische Plastik?
Die antike als auch die rezente Afrikanische Plastik hat verstanden, dass es in der Natur keine Linien gibt. Sie ist zwar dreidimensional, besitzt jedoch kein studiertes Bewusstsein für einen Körperaufbau aus Würfel, Kugel, Kegel oder Zylinder. Es sind keine Proportionsformeln, wie sie in der Definition des Goldenen Schnittes bekannt sind. Die Natur bzw. die menschliche Anatomie ist nicht die Vorlage der Abbildung. Die vage Formvorstellung, ohne die Studie zu durchlaufen, ist Ursache und Impuls für den afrikanischen Schnitzer. Immer wieder hörte ich in meinen Interviews mit den Schnitzern, dass ihre Geister sie das so tun lassen. Masken und Skulpturen werden aus der Vorstellung heraus in die plastische und, wenn man so will, auch gleich in die abstrakte Form des Körpers gesetzt. Geometrisch angeordnete Flächen bilden aneinandergesetzt ein enormes Volumen und eine immense Dreidimensionalität innerhalb der Figur. Der Schnitzer hat ohne das Studium der Anatomie eine intuitive Abstraktion durchgeführt, die einer Figur, wie zum Beispiel die Bateba-Figur der Lobi (Abb.5), durch Licht und Schatten Haltung, Dynamik und unnachahmlichen Ausdruck verleiht.
Du sprichst immer wieder von der Afrikanischen Plastik. Warum nicht von afrikanischer Kunst oder afrikanischer Skulptur?
Wir bzw. unsere Kunsthistoriker waren es, die den Begriff der afrikanischen Kunst formuliert haben, nicht die Afrikaner. Und es reicht einfach nicht, das afrikanische Objekt als afrikanisches Objekt zu beschreiben oder gar als afrikanische Kunst. Joseph Beuys sprach in seinem Schaffen von der sozialen Plastik. Der Begriff der Plastik beinhaltet das Objekt bzw. die Skulptur und den dazugehörigen kulturellen Kontext. In diesem komplexeren Rahmen muss man auch die afrikanischen Objekte sehen. Ich sage deshalb, dass zu der Betrachtung der rituellen Hintergründe und Kontexte, Zusammenhänge und Zugehörigkeiten, Betrachtungen der Historie und der Kulturentwicklung, Kulturbedeutung und Kulturverbundenheit auch die Ästhetisierung der Afrikanischen Plastik mit in diesen Kontext gehört. Sie stellt zum einen eine Wahrung dar, wie zum Beispiel in den ausdrucksstarken Fotografien von Ingrid Baars, zum anderen auch eine Weiterführung durch ihre Impulse, wie in den Skulpturen des amerikanischen Künstlers Bob Rizzo. Diese Kontextualisierung folgt nicht mehr einer Koloniallogik. Die Afrikanische Plastik bietet durch ihren bedeutungsschweren Gestaltungswillen die Möglichkeit zur Neuordnung der Betrachtungen und Denkweisen.